Moralentwicklung und Situationismus
Moralentwicklung und Situationismus
Situierung oder Segmentierung – Die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz und ihre situative Umsetzung im Bereich der Berufsbildung
Bereits die klassische Moralphilosophie befasst sich in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen mit der Frage nach den Grundlagen für die Unterscheidung von „gut“ und „böse“ bzw. zwischen „richtig“ und „falsch“. Während hier jedoch meistens eine normative Position eingenommen wurde, die vor allem der Frage nachgeht, worin denn „das Gute“ grundsätzlich bestehe, steht erst seit der Veröffentlichung der Dissertation von Lawrence Kohlberg im Jahr 1956 eine Theorie zur Verfügung, die das Entstehen moralischer Ideen im Menschen ontogenetisch beschreibt (vgl. Colby & Kohlberg 1987). Ein zentrales Kennzeichen dieser Theorie besteht in der Annahme eines homogenen Entwicklungsverlaufs, bei dem Schwankungen in der moralischen Urteilsstufe höchstens im Verlauf von Stufenübergängen zu erwarten sind. Bei stabiler Stufenstruktur steht hingegen zu erwarten, dass ein Individuum in jeglicher Situation, also unabhängig von irgendwelchen Rahmenbedingungen, stets von der höchsten ihm zur Verfügung stehenden Urteilsstufe Gebrauch macht. Im Zuge einer Längsschnittstudie hat Klaus Beck diese Annahme widerlegen können und stattdessen auf das Konzept der Segmentierung verwiesen (vgl. Beck, u. a. 2001). Demzufolge differenziert ein Individuum (in Folge einer Fehlentwicklungmoralischer Urteilskompetenz, so die Annahme!) sein moralisches Urteil in Abhängigkeit von der Domäne (also bspw. berufliches Umfeld, privates Umfeld, Freundeskreis ...), in der das zu beurteilende Problem angesiedelt ist. Jedoch lässt sich anhand der erhobenen Daten feststellen, dass eine derartige Differenzierung weit verbreitet zu sein scheint. Dies deutet darauf hin, dass es sich bei Differenzierung nicht um eine Fehlentwicklung handelt, sondern um das Ergebnis eines völlig natürlichen Prozesses. Dann jedoch greift Segmentierung, die ja nichts anders bedeutet als domänespezifischeHomogenität, als Erklärungsansatz zu kurz. Tiefer greift das Konzept der Situierung, das eine Anwendung moralischer Urteilskompetenz in Abhängigkeit von situativen Elementen postuliert (wobei nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, dass solche situierten Urteilsfindungen auch unter Berücksichtigung von Domänespezifika erfolgen können). In Verbindung mit der moralischen Urteilskompetenz einer bestimmten Qualität stellt sich dann jedoch die Frage, aus welchen Gründen diese Kompetenz in manchen Situationen genutzt wird, in anderen jedoch auf andere, niedrigere Urteilsstufen zurückgegriffen wird.
Bislang standen für die Modellierung solcher situationaler Faktoren noch keine theoretischen Modelle zur Verfügung. Mit der Entwicklung einer Theorie der Situation, die vor einigen Jahren entstanden ist (Bienengräber 2012), ist es nun möglich, die Annahmen zur moralischen Situierung theoretisch zu modellieren, in Hypothesenform darzustellen und empirisch zu prüfen.
Das Forschungsvorhaben trägt in erster Linie einen hypothesenprüfenden Charakter, der insbesondere die Frage der Unterscheidung von Segmentierung und Situierung (bzw. Situationsdifferenzierung gegenüber Situationsadäquatheit) im moralischen Urteilen adressiert und damit vorrangig eine grundlagentheoretische Ausrichtung hat (1). Gleichzeitig ermöglicht sie – ebenfalls auf der Ebene der Grundlagenforschung - die empirische Prüfung der o. g. Situationstheorie (2). Darüber hinaus trägt sie mit Bezugnahme auf die Prüfung der Situationstheorie auch eine (wirtschafts-)didaktische Zielsetzung (3), die sich auf grundlegende Verbesserungen in Bezug auf die Gestaltung situationsorientierter Lehr-Lernarrangements bezieht. Hier ist in besonderem Maße das Lernfeldkonzept angesprochen, dessen fundamentaler Bestandteil die Konstruktion von Lernsituationen darstellt (vgl. Dilger, u. a. 2006, 5-12; Bienengräber 2012).
Aus einer in den Jahren 1995 bis 2000 unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Beck durchgeführten Längsschnittstudie liegen bereits zahl- und umfangreiche Datensätze vor, die Auskunft über die Entwicklung moralischer Urteilskompetenz von auszubildenden Kaufleuten der Versicherungswirtschaft geben. Diese Daten wurden bereits im Rahmen einer Vorstudie hinsichtlich der skizzierten Fragestellung reanalysiert (vgl. Bienengräber 2011b). Dabei wurden zunächst auf theoretischer Ebene Hypothesen zu der Frage generiert, wie sich die beiden Phänomene „Segmentierung“ (in Abgrenzung zu der eher generellen Differenzierungsannahme sensu der Beckschen Forschungsergebnisse (vgl. Beck & Parche-Kawik 2004; Bienengräber 2011a), jetzt verstanden als eine (ausschließlich) lebensbereichsspezifischeDifferenzierung des moralischen Urteils) und „Situierung“ empirisch darstellen müssten. Anschließend wurden in den vorliegenden Längsschnittdaten unter Verwendung deskriptiver Statistik Hinweise gesucht, die auf Segmentierung auf der einen und auf Situierung auf der anderen Seite hindeuten.
Bei dieser Reanalyse der aus dem Beckschen Projekt stammenden Daten hat sich (in einen ersten, tentativen Zugriff und unter Berücksichtigung der Restriktionen aufgrund der vorhandenen Datenbasis) die Segmentierungs- wie auch die Situierungshypothese bestätigt (vgl. Bienengräber 2011b). So ließen sich 63 unter den insges. ausgewerteten 174 Fällen beobachten, die jene Kriterien erfüllten, die auf Basis der theoretischen Modellierung an das Auftreten von Situierung des moralischen Urteils geknüpft waren. Damit lässt dieses Ergebnis der Reanalyse erwarten, dass sich durch die eigene Erhebung von Daten und deren Analyse nicht nur bestätigendeErgebnisse zeigen werden, sondern dass so die Möglichkeit besteht, riskante Hypothesen nicht nur zu formulieren, sondern sie mit Daten, die auf Basis eines empirischen Zugriffs mit eigens auf die theoretische Modellierung abgestimmten Instrumenten erhoben werden konnten, auch einem falsifikatorischenPrüfungsversuch zu unterziehen. Aus diesem Grund wurde eine Datenerhebung durchgeführt, bei der Studierende der Wirtschaftspädagogik (Bachelor- und Masterstudiengang) mittels qualitativer, halbstandardisierter Interviews zu ihrem Situationsempfinden befragt wurden. Mittlerweile stehen aus dieser Datenerhebung 46 Interviewtranskripte zur Verfügung.
Bei dieser Datenerhebung wird eine Befragung mit sog. „Dilemmakernen“ (vgl. Eckensberger 1993) durchgeführt. Hierbei wird den Probanden eine dilemmatische Geschichte vorgegeben, die jedoch in so geringem Maße mit Hintergrundinformationen angereichert ist, dass sie gerade dazu ausreicht, dem Probanden eine Entscheidung (für oder gegen eine bestimmte Hilfestellung gegenüber dem Protagonisten) zu ermöglichen. Um die relevanten situationalen Faktoren für eine Entscheidungsänderung (was definitionsgemäß einer Situationsänderung entspricht, vgl.Bienengräber 2012) zu erheben, wird der Probanden zu den Umständen befragt, die ihn dazu veranlassen würden, seine Entscheidung zu ändern. Aus der Nennung jener Informationen, die er zusätzlich zu der Schilderung des Dilemmakerns fordert, und besonders aus der Begründung für diese Notwendigkeit lässt sich induktiv-inhaltsanalytisch auf die betroffenen Strukturelemente schließen.
Die Erstellung eines geeigneten Interviewleitfadens ist abgeschlossen und er wurde anhand von studentischen Probeinterviews validiert. Aktuell werden weitere Interviews geführt, so dass bis zum Semesterende eine Basis von ca. 60 Datensätzen vorliegen wird. Die Interviews werden derzeit transkribiert und konnten teilweise bereits mittels des qualitativen Analysetools MaxQDA ausgewertet werden. Erste Ergebnisse wurden bei der Jahrestagung der Sektion Berufs- und Wirtschaftspädagogik der DGfE, bei der Jahrestagung der „Association for Moral Education“ sowie bei der Jahrestagung des „Asian-Pacific Network for Moral Education“ vorgestellt.
Literatur:
Beck, K., Bienengräber, T., Mitulla, C. & Parche-Kawik, K. (2001). Progression, Stagnation, Regression. Zur Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz während der kaufmännischen Berufsausbildung Lehren und Lernen in der beruflichen Erstausbildung. Opladen: Leske und Budrich.
Beck, K. & Parche-Kawik, K. (2004). Das Mäntelchen im Wind? Zeitschrift für Pädagogik, 50(2), 244-265.
Bienengräber, T. (2011a). Situierung oder Segmentierung? - Zur Entstehung einer differenzierten moralischen Urteilskompetenz. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 107(4), 499-519.
Bienengräber, T. (2011b). Zur Struktur der Situation - Ansätze zur Prüfung einer Situationstheorie. Vortrag, gehalten bei der Frühjahrstagung der Sektion "Berufs- und Wirtschaftspädagogik" der DGfE, Aachen.
Bienengräber, T. (2012). Eine Theorie der Situation - mit Beispielen für ihre Anwendung im Bereich der kaufmännischen Berufsbildung. Frankfurt/Main [u.a.]: Peter-Lang-Verlag.
Colby, A. & Kohlberg, L. (1987). The Measurement of Moral Judgment. Volume I. Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sydney: Cambridge University Press.
Dilger, B., Krakau, U., Rickes, M., Sloane, P. F. E. & Tiemeyer, E. (2006). Entwicklung von Lernsituationen zur Förderung selbstregulierten Lernens - Modellversuchsinformation 4 aus dem BLK-Projekt segel-bs. Soest.
Eckensberger, L. H. (1993). Normative und deskriptive, strukturelle und empirische Anteile in moralischen Urteilen. In L. Eckensberger & U. Gähde (Hrsg.), Ethische Norm und empirische Hypothese(S. 328-379). Frankfurt/Main: Suhrkamp.