Devianz
Devianz
Abweichendes Verhalten in berufsbildenden Schulen – Mehrebenenanalyse individueller, interaktioneller und institutioneller Einflussgrößen
Unterricht im Fokus einer Lern- und Entwicklungsorientierung kann nur dann fruchtbar sein, wenn es gelingt, Behinderungen von Lernprozessen zu erkennen und zu überwinden. Es gibt unterschiedliche Arten derartiger „Behinderungen“, wie bspw. ungenügende Lehr-Lernmaterialien und damit Lernsituationen, mangelnde Motivation und fehlendes Interesse an der Arbeit, aber auch Beschämung, Angst oder allgemein bezeichnete Unterrichtsstörungen.
Im Zuge der seit 2001 in regelmäßigen Abständen veröffentlichten Ergebnisse der PISA-Studien wurde dieser Aspekt der Lernbehinderung meistens ausgeblendet. Zwar verdeutlicht eine stärkere „Outputorientierung“ was mit Lernleistung gemeint ist, jedoch zielt der Versuch, die Lernergebnisse in Form von Bildungsstandards festzusetzen, nur darauf ab, die potentielle Lernleistung der Schüler zu erhöhen (indem festgeschrieben wird, was auf einer bestimmten Klassenstufe gekonnt werden soll). Die Bedingungen, die oben als Behinderung von Lernen bezeichnet sind, werden als Kovariaten meistens nicht in Modellierungen der Varianzaufklärung mit einbezogen. Dennoch ist es in einer lernerzentrierten Sichtweise durchaus denkbar, dass Schüler allein durch ein Nicht-Vorhandensein von Lernbehinderungen bessere Lernleistungen erbringen.
Ein Forschungsvorhaben, das am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik verfolgt wird, liegt auf der Untersuchung der Problematik von Lernhindernissen im Kontext des Auftretens von Devianz, wobei das Augenmerk sowohl auf Seiten der Lehrpersonen,der Lernenden als auch der Institution „Schule“ gerichtet wird.
Devianz (abweichendes Verhalten) manifestiert sich in der Schule häufig in Form von Unterrichtsstörungen. In der Konsequenz müssen Lehrkräfte viel Zeit darauf verwenden, ein Mindestmaß an Unterrichtsdisziplin aufrecht zu erhalten. Das hat mit Blick auf die strukturelle Seite von Unterricht zur Folge, dass ein großer Teil der Unterrichtszeit für steuernde Eingriffe anstatt für die Vermittlung von Inhalten verwendet werden muss. Unter interaktionell-sozialer Perspektive belastet es das gesamte Unterrichtsklima und führt zu motivationalen und emotionalen Defiziten, sowohl auf Lehrer- als auch auf Schülerseite (vgl. Krumm 2003). Gerade für die berufsschulische Bildung birgt ein störungsreicher Unterricht ein zusätzliches didaktisch-methodisches Problem: Um die Unterrichtsdisziplin wieder herzustellen, wird oftmals auf eine stark strukturierende Unterrichtsweise zurückgegriffen. Ein solcher Unterricht stellt aber eine Gefährdung für handlungs- und problemorientierte Lehr-Lernarrangements dar und verfehlt damit das in der Lernfelddidaktik zugrunde gelegte Ziel der Vermittlung beruflicher Handlungskompetenz. Insgesamt erschwert ein von deviantem Verhalten gekennzeichneter Unterricht das Durchführen des pädagogischen Auftrags der Schule in enormem Ausmaß.
Die Überlegungen im Kontext dieses Forschungsvorhabens gehen dahin, dass es mehrere Gründe für derartiges abweichendes Verhalten gibt, die in unterschiedlichen Bereichen des schulischen Interaktionsraumes zu suchen sind, auf die aber auch in verschiedener Weise Einfluss genommen werden kann. Hier ist einerseits an dispositionale Einflüsse der Schülerpersönlichkeit zu denken (vgl.Seligman & Csikszentmihalyi 2000; Kristjánsson 2010), andererseits an das Schulklima (vgl. Nolting 2012), und als drittes an das Lehrerverhalten in der unmittelbaren Interaktion (vgl. Krumm 2003; Krumm & Weiß 2010; Memmert 1997).
Das Forschungsvorhaben zielt darauf ab, zunächst (hypothesengenerierend) diese unterschiedlichen Einflussgrößen aller drei genannten Bereiche sowie ihre Interdependenzen auf theoretischer Basis zu identifizieren, um anschließend (hypothesenprüfend) ihr Zusammenwirken zu erklären sowie letztlich (intervenierend) auf die in den vorigen Schritten identifizierten Ursachen und ihre Zusammenhänge einzuwirken.
Dazu wird derzeit am Lehrstuhl eine theoretische Konzeptionierung des Zusammenhangs zwischen Abweichendem Verhalten und bestimmten Persönlichkeitsdispositionen erarbeitet. Hierbei wird jedoch über die als „Big 5“ bekannten Dispositionen (Neurotizismus, Extrovertiertheit, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, vgl. McCrae & Costa 2006; Borkenau & Ostendorf 2008) hinausgegangen und statt dessen auf einem theoretisches Konzept aufgebaut, das auf 24 Persönlichkeitsdispositionen setzt, die sich als Charakterstärken beschreiben lassen (vgl. Kristjánsson 2010; Peterson & Seligman 2004). Hierzu befassen wir uns mit der Operationalisierung von Indikatoren zur Messung pädagogischer Devianz im Rahmen von Leistungsbewertungen sowie bei der Durchführung von Unterrichtsbeobachtungen. Im Zentrum stehen außerdem empirisch begründete, hypothesengenerierende Strukturbildung und Typisierungen in Bezug auf das Phänomen „pädagogische Devianz“, besonders in den Arbeitsfeldern der Institution „Schule“.
Literatur:
Borkenau, P. & Ostendorf, F. (2008). NEO-FFI: NEO-Fünf-Faktoren-Inventar nach Costa und McCrae (2., neu normierte und vollst. überarb. Aufl.). Göttingen [u.a.]: Hogrefe.
Kristjánsson, K. (2010). Positive Psychology, Happiness, and Virtue: The Troublesome Conceptual Issues. Review of General Psychology, 14 (4), 296-310.
Krumm, V. (2003). Wie Lehrer ihre Schüler disziplinieren. Salzburger Beiträge zur Erziehungswissenschaft, 7 (2), 109-119.
Krumm, V. & Weiß, S. (2010). Ungerechte Lehrer. In R. Dollase (Hrsg.), Gewalt in der Schule (S. 60-79). Stuttgart: Kohlhammer.
McCrae, R. R. & Costa, P. T. (2006). Personality in adulthood: a five-factor theory perspective (2. Aufl.). New York [u.a.]: Guilford Press.
Memmert, W. (1997). Kunstfehler beim Unterrichten. In B. Schwarz & K. Prange (Hrsg.), Schlechte Lehrer/innen: zu einem vernachlässigten Aspekt des Lehrberufs (S. 248-274). Weinheim [u.a.]: Beltz.
Nolting, H.-P. (2012). Störungen in der Schulklasse: ein Leitfaden zur Vorbeugung und Konfliktlösung. Weinheim [u.a.]: Beltz.
Peterson, C. & Seligman, M. (2004). Character strengths and virtues: a handbook and classification. Washington, DC, Oxford [u.a.] Oxford Univ. Press: American Psychological Assoc.
Seligman, M. & Csikszentmihalyi, M. (2000). Positive Psychology - An Introduction American Psychologist (Nr. 55, S. 5-14).